Die zunehmende Debatte über klimafitte Wälder und die dringend notwendige Verjüngung auf deutschen Kalamitätsflächen ist offensichtlich nicht möglich, ohne den Schlachtruf „Wald vor Wild“ zu vernehmen. Dieses unsägliche Motto führt bei mir zu heftigem Kopfschütteln: Nicht bejahend nickend, sondern mit einer horizontalen Kopfbewegung. Schließlich ist der Begriff nicht nur ökologisch gesehen falsch. Der Wald ist schließlich ein Ökosystem, zu dem auch das Wild gehört. Man kann nicht das große Ganze als wichtiger erachten als einen natürlichen Teil davon. Gemeint ist mit „Wald vor Wild“ ja meistens, dass die lokal zu hohen Wildbestände zu einem vom Menschen unerwünschten Wildeinfluss führen, der die Durchmischung von Forstbeständen oder die Verjüngung bremst oder gar verhindert. Dieser Wildeinfluss wird also als Wildschaden aufgefasst. Wildeinfluss kann aber auch positiv sein, somit ist nicht jeder verbissene Baum ein Wildschaden. Komplexe Themen kann man einfach nicht in vereinfachende Schlagwörter pressen.

Wenn der Wald nicht wichtiger sein kann als das Wild, wie kann es dann überhaupt einen Wald-Wild-Konflikt geben? Wer hat hier mit wem einen Konflikt? Der Wald mit dem Wild jedenfalls nicht. Tatsächlich meint man mit dem Begriff den Konflikt zwischen Forst und Jagd, bei dem das Wild, genauer gesagt die Dichte der Wildwiederkäuer, der Zankapfel ist. Gestritten wird darum, wieviel Wild der Forst verträgt, nicht der Wald! Wer das Jagdrecht in Deutschland kennt, weiß, dass dieses beim Grundeigentümer liegt. Ein Forstbesitzer kann – im Rahmen der Gesetze – selbst entscheiden, wieviel Wild er auf seinem Grund und Boden duldet. Eigentlich müsste der Forstbesitzer also mit sich selbst streiten. Aber vielerorts hat er aus den unterschiedlichsten Motiven heraus darauf verzichtet, die Ausübung seines Jagdrechtes zu leben und das Jagdrecht an Dritte weitergegeben. Diese Jagdpächter oder Abschussnehmer haben nicht selten andere Interessen als der Forstbesitzer, nämlich viel Wild auf der Fläche, und so ist es die logische Konsequenz, dass das Wild mitunter derart aufgehegt (oder einfach nur geschont) wurde, dass die Dichte an Hirsch und Reh deutlich über der Lebensraumtragfähigkeit des Forstes lag. Forst und Jagd tanzten in diesem Gespann über die Jahre auf Messers Schneide. Trockenheit und Borkenkäfer lassen den einen oder den anderen über die Klinge springen. Das Problem ist dabei nicht alleine die Dichte der Wildwiederkäuer, sondern auch die vom Menschen gemachte niedrige Lebensraumtragfähigkeit in vielen Forsten Deutschlands. Ein heißer Sommer oder ein Fortschädling legt also oft nur den Finger in die Wunde, die vorher wenig Beachtung fand.

Momentan sind Forstbesitzer in trockenen oder vom Käfer geplagten Regionen mit dem Rücken an der Wand. Der Wald soll sich dort verjüngen und die Wildbestände lassen das nicht zu. Also ist die naheliegende Forderung, dass das Wild dezimiert werden muss. Zur Zielerreichung werden Jagdzeiten ohne Rücksicht auf die Biologie der Wildarten vom Gesetzgeber ausgedehnt und technische Möglichkeiten zur Abschusserfüllung maximal genutzt. Damit beginnt ein Wettrüsten zwischen Mensch und Tier, bei dem unter den gegebenen Voraussetzungen das Tier immer eine Nase vorn ist. Jede Erhöhung des Jagddrucks führt beim Wild zu einer Gegenreaktion, die sich in einer veränderten Raum-Zeit-Nutzung bemerkbar macht. Auf deutsch: das Wild wird „unsichtbar“. Reflexartig kommt dann als nächstes der Ruf nach Nachtsichtzielgeräten, Reduktionsgattern oder anderen Methoden des Wildmanagements, die mit einer weidgerechten, nachhaltigen Jagd nicht mehr viel zu tun haben. Überraschenderweise mischen bei dieser Diskussion auch einige Naturschutzverbände mit und fordern höhere Abschusszahlen durch längere Jagdzeiten. Sie zeigen damit nicht nur ihr ökologisches, waldbauliches und jagdwirtschaftliches Unvermögen, sondern offenbaren auch ihre Ideologie. Während Wölfe als heiliger Gral gelten, werden Reh und Hirsch zum Schädling erklärt. Mit einem nachhaltigen Wildtiermanagement in unserer vom Menschen überprägten Kulturlandschaft hat das leider nur wenig gemein.

Es liegt auf der Hand, dass der Forst-Jagd-Konflikt nur gelöst werden kann, wenn man zur Deeskalation beiträgt. Sowohl zwischen den involvierten Menschen, also Förstern und Jägern, als auch zwischen Mensch und Wild. Bei den Menschen hilft reden, Ziele abgleichen, Anreize schaffen und Verständnis suchen. Wenn das nichts hilft, dann muss der Forstbesitzer eben die Jagd wieder selbst in die Hand nehmen. Geliebte Pachtreviere gehen so manchem Jäger durch Uneinsichtigkeit verloren, schließlich sitzt der Grundeigentümer am längeren Hebel. Eine Deeskalation zwischen Mensch und Wild erreicht man, in dem man Jagdzeiten entgegen aller Reflexe und unabhängig von den gesetzlichen Maximalmöglichkeiten auf wenige Wochen reduziert und damit das „unsichtbare“ Wild wieder in den Anblick bringt. Intervallbejagung ist das Zauberwort. Dazu gehört Mut, denn man reduziert zeitlich begrenzt den Jagddruck, um dann hoffentlich in kurzer Zeit viel Strecke zu machen. Dabei ist es natürlich ungleich schwerer, diese Strategie in der Rotwildbewirtschaftung zu fahren. Die großräumige Lebensraumnutzung dieser Wildart zwingt zum Abgleich und Austausch mit den Jagdnachbarn. Dass es hier oft zu Spannungen kommt, zeigt einmal mehr, dass es kein „Wald-Wild-Konflikt“ ist, sondern ein Streit zwischen Menschen um das Wild.

Hinzu kommt, dass der nicht gewünschte Wildeinfluss nicht alleine davon abhängig ist, wie hoch die Dichten der Wildwiederkäuer sind, sondern auch, wie der Wald aufgebaut ist. Monokulturen sind wildschadensanfälliger als naturnahe Mischwälder, dichte Altersklassenwälder mehr als strukturierte Bestände, die auch Licht an den Boden lassen. Probleme bei „zu hohen“ Wildbeständen löst man im Wald nicht alleine mit der Büchse, sondern auch mit der Motorsäge. Wer wildschadensanfällige Forstflächen sein eigen nennt, der hat beim Waldumbau natürlich Probleme, wenn die Wildbestände zu hoch sind. Daher braucht es ein gut abgestimmtes Konzept für ein integrales Schalenwildmanagement, bei dem der Grundeigentümer die Jagd als Dienstleistung anerkennt, aber auch weiß, dass er dem Jagdausübungsberechtigten nicht nur Vorschriften machen darf, sondern auch die Bejagungsmöglichkeiten schaffen muss, die es für eine Wildreduktion braucht. Dazu gehören Schussschneisen in den Verjüngungsflächen und gute Ansitzmöglichkeiten, um eine echte Schwerpunktbejagungsfläche zu schaffen, die gemeinsam bejagt werden muss, bis die Bäumchen dem Äser entwachsen sind. Andererseits müssen die Jagdpächter und Abschussnehmer ihrer Verantwortung gerecht werden, in den Revieren für einen artenreichen, gesunden Wildstand zu sorgen, der den berechtigten Interessen der Land- und Forstwirtschaft nicht zuwiderläuft. Sicherlich zahlen Jäger für ihre Freizeitbeschäftigung, aber sie erkaufen sich dadurch nicht das Recht auf hohe Wilddichten, die bei jedem Ansitz oder Pirschgang zu großartigem Anblick führen. Erwartungshaltungen müssen also auf beiden Seiten angepasst werden, ansonsten wird es für den Forstbesitzer teuer, weil er für die Jagd nur mehr Ausgaben, aber kaum Einnahmen hat, und für den Jäger frustrierend, weil statt dem bezahlenden (Freizeit-)Jäger der bezahlte (Berufs-)jäger am Drücker ist.

Curriculum Vitae

Klaus Hackländer, Jahrgang 1970, studierte zunächst Zoologie und Naturschutz an der Philipps-Universität Marburg und wurde an der Universität Wien in Zoologie promoviert. Seit 2005 ist er Professor für Wildtierbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur Wien. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören unter anderem das Management von Schalenwildbeständen im Alpenraum. Seine Expertise bringt er in diversen internationalen Gremien ein, z.B. als Präsident der Division Angewandte Wissenschaften im CIC. Darüber hinaus leitet er den im deutschsprachigen Raum einzigartigen Universitätslehrgang „Jagdwirt/in“. Hackländer ist seit Jahresbeginn Vorstandsvorsitzender der Deutschen Wildtier Stiftung und widmet sich dort vor allem dem Natur- und Artenschutz in Deutschland.